Die meisten Lutheraner haben wohl noch nichts von Gudina Tumsa gehört, obwohl er von denen, die ihn kannten, „der äthiopische Bonhoeffer“ genannt wurde. Pfarrer Gudina war ein außergewöhnlicher Evangelist, Prediger und Kirchenleiter der Evangelischen Kirche Mekane Yesus in Äthiopien, als diese aus einer Missionskirche zu einer unabhängigen Kirche wurde. Er formulierte ein ganzheitliches Verständnis des Amtes, das nicht nur der Seele oder dem Leib dient, sondern den Dienst an beiden miteinander verbindet als Antwort auf das Evangelium von Jesus Christus. Gudina war auch ein Pionier der Ökumene in Äthiopien. Er organisierte den ersten Äthiopischen Rat der Kirchen – ein mutiger Schritt gegen das unterdrückerische kommunistische Derg-Regime, das ihn daraufhin entführte und im Juli 1979 ermordete.
Zur Erinnerung an Gudinas bemerkenswertes Zeugnis und um sein Vermächtnis eines ganzheitlichen Amtes weiterzuführen, richteten seine beiden Töchter Lensa und Aster Gudina die Gudina-Tumsa-Stiftung ein. Die Stiftung hat einen Band mit seinen noch vorhandenen Schriften herausgegeben (die meisten sind zerstört worden, als die Derg 1981 die Besitztümer der Kirche konfiszierten); sie führt Entwicklungsprojekte und Bildungsseminare in ganz Äthiopien durch und veranstaltet das Gudina-Tumsa-Theologische Forum. Die diesjährige Konferenz fand vom 12.-13. April im Luther Seminary in St. Paul, Minnesota, statt. Das Thema war „Ecumenical Challenges: Working in Love, Transforming Lives“. Ziel der Tagung war die Entwicklung eines biblischen Verständnisses der gegenwärtigen Herausforderungen der Ökumene, die Beziehung zwischen „Glaube und Partnerschaft“ sowie die Reflexion darüber, was es heißt, Leib Christi über nationale, konfessionelle und ethische Grenzen hinaus zu sein.
Prof. Sarah Wilson vom Institut war Referentin bei der diesjährigen Tagung. Sie sprach zu dem Thema „The Challenge of African Churches in the Ecumenical Discussion, with Special Reference to Ethiopia“. Nach 50 Jahren bilateralen Dialogs ist klar geworden, dass viele, wenn nicht die meisten Trennungen in der Kirche in der menschlichen Sünde verwurzelt sind – in mangelndem Hören und Verstehen, politischen Gründen, abgelehnter Vergebung, falsch gesetzten Prioritäten. Auf der anderen Seite sind nicht alle Trennungen sündig; manche wurzeln im Kampf um die Wahrheit. Wahre Meinungsverschiedenheiten, die aus dem Ringen um das Verstehen der Wahrheit entstanden sind, sind – im Gegensatz zu falschen Meinungsverschiedenheiten, die aus mangelnder Liebe herrühren – ein Gewinn und ein Segen. Die Ökumene will deshalb nicht alle Unterschiede beseitigen und sie durch eine einzige, endgültige Mono-Theologie, die alles andere zum Schweigen bringt, ersetzen. Neuere Fortschritte im Verständnis der interkulturellen Natur des Evangeliums können hilfreich sein: Die Ökumene führt uns aus unserem Heimatland an neue Orte, die anders sind als unsere Heimat und unseren Horizont erweitern. Wir sollen unsere Heimat nicht für immer verlassen, sondern wir sollen uns durch Begegnungen zum Besseren entwickeln, sowohl zu Hause wie anderswo. Damit wird unsere Fähigkeit gefördert, unsere Heimat und die anderen Orte kritisch zu sehen und ihre wahren Stärken zu erkennen. Dies ist die grundlegende Einsicht der ökumenischen Strategie, die man „differenzierten Konsens“ nennt: dieselbe Wahrheit kann man in ganz verschiedenen kulturellen und sprachlichen Formen finden.
Die Mekane Yesus Kirche stellt für diese Art von Ökumene einen ausgezeichneten Studiengegenstand dar. In den 1970-er Jahren erlebten junge lutherische Mitglieder der Kirche durch Begegnungen mit Missionaren aus der Pfingstbewegung eine charismatische Erweckung. Sie stießen auf großen Widerstand und waren so frustriert, dass sie die Mekane Yesus-Kirche verlassen wollten. Aber Gudina Tumsa forderte sie heraus: „Jesus ist gestorben, aber er ist vom Tod auferstanden. Baut keine neue Kirche, sondern erbaut eure alte Kirche neu. Erweckt sie vom Tod.“ Unter seiner Leitung versammelte sich eine Gruppe von vierzig Personen. Sie reflektierten neu über die biblische Lehre vom Heiligen Geist, das Augsburger Bekenntnis und über Antworten von historischen Kirchen auf die charismatische Erweckung. Das Endergebnis war ein Bericht, wie die charismatische Erweckung insbesondere in die Gottesdienstpraxis einbezogen werden und die Kirche dennoch der lutherischen Lehre treu bleiben kann. Es sollte erwähnt werden, dass zu der Zeit, als diese Entscheidung getroffen wurde, die Kirche ca. 200.000 Mitglieder zählte; heute sind es ca. 5,6 Millionen. Dieses respektvolle, offene, biblische Angehen einer ökumenischen Herausforderung war für die Mekane Yesus Kirche ausgesprochen erfolgreich!
Dieses Beispiel ist auch ein Argument gegen den zerstörerischen Slogan „Dienst verbindet, Lehre trennt“ oder „Spiritualität verbindet, Lehre trennt“, den man manchmal in ökumenischen Kreisen zu hören bekommt. Hier sollte man Gudina Tumas Grundeinsicht folgen: Es muss eine ganzheitliche Methode für die Ökumene geben. Dienst, Spiritualität und Lehre gehören zusammen. Wenn man ein Element auslässt, führt dies zur tödlichenVerarmung der beiden anderen. Man hat oft den Eindruck, dass die Weltkirche Afrika als in Fragen des Dienstes und der Spiritualität progressiv ansieht. Die Lehre scheint jedoch als unwichtig betrachtet zu werden oder als Luxus für frohe und sichere Zeiten. Aber die Lehre sagt uns, wer Gott ist, und zeigt uns daher, wie der Dienst aussieht und wie wir unsere Spiritualität zum Ausdruck bringen können. Es wäre also von großem Nutzen, wenn die Äthiopische Kirche die Herausforderung einer ganzheitlichen Christologie, auf deren Grundlage ein ganzheitliches Amt aufgebaut ist, aufgreifen könnte. Die Ressourcen dazu kann man bereits in der Theologie Martin Luthers finden, der großen Wert auf die Einheit der Person Christi gelegt hat, oder noch weiter zurückgehend bei Cyrill von Alexandrien, dem großen afrikanischen Theologen und Vorkämpfer des Konzils von Ephesus. Dass die äthiopische orthodoxe Kirche eine direkte und treue Erbin von Cyrills Christologie ist, ist ein weiterer ökumenischer Vorteil.