Vorlesungen zu Luther in Taiwan

Es ist immer wieder eine Überraschung und eine Freude, wie begeistert Luthers Theologie außerhalb seiner europäischen Heimat aufgenommen wird. Ende April hielt Prof. Dr. Sarah Hinlicky Wilson am China Evangelical Seminar in Taipei, Taiwan, vor einem sehr engagierten und enthusiastischen Publikum ein dreitätiges Seminar zum Thema „Reconsidering Martin Luther for the 2017 Reformation Anniversary: Theological Insights and Ecumenical Hopes“.

An jedem Tag wurden zwei Vorlesungen zu Luther angeboten sowie eine dritte abschließende Vorlesung zur Relevanz des jeweiligen Tagesthemas zu ökumenischen und interreligiösen Fragen. Wilson begann mit einer Einführung in Luthers historischen Kontext in der westlichen Kirche des Mittelalters einschließlich einer ausführlichen Analyse der 95 Thesen zum Ablass und der weniger bekannten, theologisch jedoch reicheren Thesen von 1518 zur Vergebung der  Sünden. Dies machte den  Weg frei für einen Überblick über die lutherisch-katholischen Beziehungen im vergangenen Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Die Christen in Taiwan sind ungefähr zur Hälfte katholisch und zur Hälfte evangelisch, aber es besteht bisher nicht viel ökumenisches Engagement unter ihnen.

Der zweite Tag konzentrierte sich auf Luthers Hermeneutik von Gesetz und Evangelium und begann mit einer detaillierten Behandlung der Problematik: Das Gesetz ist, was Gott gebietet, das Evangelium ist, was Gott schenkt. Wilson ging dann zum Großen Katechismus über und zeigte, wie die Gesetz-Evangelium-Dynamik in ihm strukturell und im Detail enthalten ist. Allzu häufige Fehlinterpretationen des Gesetzescharakters haben im lutherischen (und weiteren christlichen) Denken manchmal zu einem unannehmbaren Anti-Judaismus geführt. In diesem Sinn behandelte die Abschlussvorlesung des Tages Luthers Vermächtnis im Blick auf die Juden. Während Wilson einräumte, dass Luther am Ende seines Lebens viele hasserfüllte Schriften verfasste, wies sie aber auch auf die vielen Stellen hin, an denen Luther das Alte Testament, Moses und das Gesetz lobte und sagte, dass Israeliten und Christen dieselbe Religion und denselben rechtfertigenden Glauben haben.

Am letzten Tag nahm Wilson das Thema der Taufe auf. Die erste Vorlesung legte Luthers grundlegendes Verständnis der Taufe dar: Es ist ein Gebot für das apostolische Amt, alle Nationen zu taufen, aber – was noch wichtiger ist -, ein Geschenk, das von allen Nationen angenommen werden soll. Somit ist die Taufe vor allem Gottes Handeln und nicht die Handlung des menschlichen Täufers oder des Getauften. Dies stellte wiederum die Frage nach Luthers Verteidigung der Kindertaufe und ihre Position im Kontext des Glaubens der Kirche, des apostolischen Gebotes und der reinen Gnade der Taufe selbst. Zum Schluss legte Wilson die Geschichte der lutherisch-mennonitischen Versöhnung bei der Vollversammlung des LWB 2010 in Stuttgart dar und machte Vorschläge, wie Christen, die Kinder taufen, und die, die die Kindertaufe ablehnen, auf eine gemeinsame Anerkennung und gegenseitigen Respekt hin arbeiten und den Skandal einer Wiedertaufe vermeiden können.

An den ersten beiden Tagen machten Mitglieder der christlichen Gemeinschaft in Taiwan, Professoren am China Evangelical Seminary (CES) und Ortspfarrer, scharfsinnige Bemerkungen zu Wilsons Vorlesungen. Am letzten Tag konnten Studenten und andere Teilnehmer Fragen stellen, die wohl überlegt und breit gefächert waren. Die Erregung und Energie einer Christenheit, die in einem neuen Kontext entsteht, war die ganze Zeit spürbar.

Entscheidend für den Erfolg der Vorlesungen war Prof. Yuan-Wie Liao, der Theologie am CES lehrt. Er hatte an dem Seminar „Studying Luther in Wittenberg“ teilgenommen, das Wilson und Prof. Dr. Theodor Dieter leiteten. Bei dieser Gelegenheit entstand auch die Einladung an Wilson, in Taiwan zu unterrichten. (Wilson konnte übrigens alle vier Pastoren aus Taiwan treffen, die an früheren Seminaren in Wittenberg teilgenommen hatten.) Prof. Liao dolmetschte alle neun Vorlesungen mit großer Leichtigkeit und Fertigkeit. Außerdem tat er alles, um Reise, Aufenthalt und sogar Sightseeing für Wilson und ihre Familie, die sie nach Taiwan begleitet hatte, zu ermöglichen. Am letzten Tag ihres Besuchs besuchten Prof. Wilson und ihr Mann Andrew Prof. Liaos Kurs zu Luthers Theologie. Bei dieser Gelegenheit beantworteten sie Fragen und sprachen über ihre Pilgerreise im Jahr 2010 auf Luthers Spuren von Erfurt nach Rom, über die Andrew Wilson ein Buch geschrieben hat. Außerdem organisierte Prof. Liao für Wilson die Möglichkeit, bei einer lokalen lutherischen Gemeinde beim Sonntagsgottesdienst zu predigen und eine Diskussion zu halten über Luthers grundlegende politische Einsichten und ihre eventuelle Anwendbarkeit auf die einzigartige politische Situation in Taiwan.

Nach den Vorlesungen am CES besuchte Prof. Wilson auch das China Lutheran Seminary (CLS) in der Nachbarstadt Hsinchu auf Einladung von Prof. Jukka Kääriäinen. CLS ist die einzige lutherische mandarin-chinesisch-sprachige Hochschule der Welt sowie das wichtigste Kooperationszentrum für die sechs lutherischen Konfessionen in Taiwan.Wilson sprach über Gesetz und Evangelium im Gottesdienst, nahm am Mittagessen teil und besichtigte die wunderbare Bibliothek (die eine komplette Sammlung von Luthers Werken, die amerikanische und die Weimarer Ausgabe, besitzt). Das Lehrerkollegium des CLS kommt aus Taiwan und aus anderen Teilen der Welt, was zu einer anregenden internationalen Dynamik führt.

Wilsons Vorlesungen werden nach Überarbeitung und Erweiterung ins Chinesische übersetzt und vom Taosheng Publishing House veröffentlicht werden.

Die Wilsons waren sehr bewegt von der Freundlichkeit und Gastfreundschaft der taiwanesischen christlichen Gemeinschaft und hoffen, dass sich Gelegenheiten für weitere Zusammenarbeit ergeben werden.

 

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